Unter der Überschrift
Blickverschiebung – Zwischen Biografie und literarischem Werk
diskutierten Strittmatter-Kenner und Kritiker (Irmtraut Gutschke, Journalistin/Autorin u. a. „Leib und Leben“, Werner Liersch, Germanist/Autor, Carsten Gansel, Professor für deutsche Literatur und Mario Holetzeck, Theaterregisseur) darüber, welchen Einfluss die Kenntnis der Biografie eines Dichters auf die Sicht und Deutung seines Werkes hat.
In den letzten vier Jahren gab es viele Blicke auf Strittmatter, auch schmerzliche Verschiebungen. Den einen machten sie böse oder traurig, andere freute es, denn „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ – vor allem in den Medien. Der eine Strittmatter-Leser dachte nach, las neu und änderte seine Sicht. Andere Strittmatter-Freunde ließen das Neuaufgedeckte nicht an sich heran: Sein Leben gehört ihm, mir seine Literatur.
Die von Helmuth Henneberg moderierte Diskussion verlief recht einträchtig. Werner Liersch wiederholte seine Vorstellung von der Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft, besonders nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg und der deutschen Schuld (mit Verweis auf Franz Fühmann) und seiner Überzeugung, Strittmatter wäre ihr in seiner Literatur nicht gerecht geworden. Und er hätte sich als Antifaschist stilisiert. Dazu durfte auch ein Seitenhieb auf die Rede Anita Tacks, Umweltministerin/Brandenburg, Die Linke, zum 100. Geburtstag Strittmatters in Spremberg nicht fehlen! Leider wurde an diesem Vormittag die Frage nicht gestellt, wo sich der Autor Liersch während des in der DDR verordneten Antifaschismus aufhielt.
Interessant waren die Aussagen Gansels, dass nach 1945 in Westdeutschland Soldaten ihre traumatischen Kriegserlebnisse narrativ verarbeiten konnten, und dass die Recherchen Lierschs 2008 zu Irritationen geführt habe, weil sich manche Ostdeutsche ebenfalls ihrer Biografie delegitimiert sahen.
Für Gansel wie für Gutschke wäre Strittmatter nicht in der Lage gewesen bzw. es wäre für ihn nicht gut gewesen, sich der Auseinandersetzung mit seiner Militärbiografie zu stellen. Gansel: „Er hat die Form nicht gefunden, darüber zu schreiben. Er hat sich eine Wunschbiografie gestaltet.“ Auch folgende Aussage Gansels , dass das ICH sich daran erinnert, was das ICH stärkt, finde ich für den Charakter Strittmatters symptomatisch.
Zu seinen Blickverschiebungen in der Theateraufführung Der Laden Zweiter Abend wurde Mario Holetzeck befragt. Wie viel Strittmatter stecke denn noch in seiner Inszenierung? Seiner Meinung nach war es nötig, neben Strittmatters Texten und seiner Familie die Fragen : Wo bist du gewesen? Was hast du getan! zu stellen. Für Holetzeck steht ein Mensch mit moralischen Defiziten, absoluter Zerissenheit auf der Suche nach sich selbst im Mittelpunkt.
(Der Regisseur wird voraussichtlich Gast in unserer im Januar 2013 stattfindenden Mitgliederversammlung sein.)
Was bleibt von Strittmatters Literatur? Professor Gansel fordert: „Nicht kursorisch, sondern gründlich lesen. Die Leser entscheiden, was bleibt.“
Renate Brucke