Unser langjähriges Mitglied Ute Kobelt machte uns auf einen Artikel der Zeitschrift „Sprachnachrichten“ III/2013 aufmerksam, die herausgegeben wird vom Verein für Deutsche Sprache eV. Unter der Rubrik SCHÖNES DEUTSCH erscheinen regelmäßig Schriftsteller, die dem Leser etwas zu erzählen haben.
Diesmal also Erwin Strittmatter, dem der Autor im Jahr 2013 eine bemerkenswerte positive Einschätzung widmet. Darüber freuen wir uns. Vielleicht wird so mancher der mehr als 36.000 weltweiten Mitglieder dieser Gesellschaft auf den Autor neugierig!
Im Folgenden die vom Verein genehmigte Einführung des Redakteurs Gerd Schrammen. (VDS-Geschäftsstelle info@vds-ev.de)
Das Dorf heißt Bossdom und liegt in jener Südostecke Deutschlands, neben Polen und oberhalb von Tschechien, von der ich nicht viel weiß. Es gibt ein Kohlebergwerk, eine Glasfabrik, kargen Ackerbau
und eine Heide, auf der krumme Birken wachsen. Die Gegend heißt Niederlausitz.
Dort spielt Erwin Strittmatters Roman Der Laden. Er geht von der Kaiserzeit bis in die Jahre nach 1945. Es ist eine rauhe Welt. Eltern und Großeltern streiten sich um Darlehen und Zinsen. Väter haben Wutanfälle und schmeißen Tassen kaputt. Der Müller zerhackt die Mandoline seines Sohnes mit der Axt.
In der Schule prügelt der Lehrer, und die Knaben üben sich darin, einen harten Ursch zu bekommen. Bisweilen liegt der Schulmeister über den Pulten der ersten Reihe und schläft einen Rausch aus. Dann müssen die Schüler sich die letzten Neuigkeiten aus dem Dorfleben erzählen. Aber leise, um den ruhenden Pädagogen nicht zu wecken.
Die Bewohner überwachen einander – wie das auf dem Dorf üblich ist. Wer vom ausgetretenen Pfad abweicht, erntet Missbilligung, selten auch Bewunderung. Das Motorrad des Onkels wird bestaunt. Eifrige Späherin ist die Großmutter. Sie sieht manches, wenn sie zu Miste geht. Den Vater, wenn er mit der Hausmagd Hanka in der Scheune verschwindet. Die ist hübsch, hat auch Liebesgefühle im Onkel geweckt und spielt Hasenküsse mit dem Knaben Esau.
Esau Matt beobachtet Menschen und Dorfleben, die Natur, den Himmel und die Sterne. Er macht sich Gedanken über alles, was er sieht, und versucht zu verstehen, was fremd ist und unergründlich scheint. Ein neuer Lehrer entdeckt die Begabung des Jungen und sorgt dafür, dass er nach Grodk auf die hoche Schule kommt. Esau erlebt den ersten großen Liebeskummer, und so weiter.
Das alles ist tiefe Provinz, in die indessen die großen Weltereignisse hineinragen. Im Ersten Weltkrieg
war der Vater Bursche eines Generals. Dem musste er jeden Morgen die Bartbinde umtun. Während der Inflation gehen die Bauern zur Naturalwirtschaft über. Nach 1933 spielen die Schüler mit hölzernen Waffen und marschieren im Gleichschritt durch die Kleinstadt. Ein Junge beschimpft einen Mitschüler als Kommunistenschwein. Ein Mann, der eigentlich Schickelgruber heißt – der Erzähler nennt ihn auch Adolf von Linz – wird als Genie bewundert. Wenig später sterben die Männer in Russland, werden an der Kanalküste verwundet oder in Sibirien festgehalten. Nach 1945 bäckt Heinrich Matt Brote für die Soldaten der Roten Armee. Und langsam bildet sich ein neuer Staat heraus, der sich DDR nennen wird.
Der Charme dieses Romans über das kleine Dorf und die große Welt liegt in der Ehrlichkeit des Erzählers, der Freundlichkeit gegenüber jeder seiner Romangestalten und seinem Humor. Das gut entwickelte Triebleben der Bauern schildert er verständnisvoll und unverklemmt, bisweilen belustigt, aber ohne Lüsternheit. Pfarrer Kokosch vergisst mit der Leiterin einer Privatschule das Sechste Gebot. Das ist ein zweifacher Sturz von ehrwürdiger Höhe ins Schwach-Menschliche – und komisch. Hat die Lehrerin den Pastor verführt oder der die Sägebocken?, fragen sich die Dorfbewohner.
Wer was für Sprache übrig hat, wird reich belohnt. Zwischen Sorbisch, Niederschlesisch und Hochdeutsch bahnen die Figuren sich ihren Weg. Die Mutter, die bis spät in die Nacht Frauenzeitschriften liest, sieht auf korrekte Rede und sagt Glauben mir Se’s oder spricht von ihrem Loaden. Mit wehen Füßen steht sie hinter der Theke und verkauft Heringe, Kunsthonig und poarchen von die neien Zigarrn. Sie hat Freundinnen, das sind die Kumpankas. Im Dorf gibt es eine Hintenrumsche und einen Groadezuen. Christine sagt ni für „nicht“ und oo für „auch“. Das ist Schlesisch. Ein Kamerad, der mit dem Bruder aus der Gefangenschaft in Italien zurückkommt, sagt sulche und wull für „solche“ und „wohl“. Das ist Sudetendeutsch.
Mit Der Laden hat Erwin Strittmatter einen Text über sich selbst geschrieben. Strittmatter ist in Bohsdorf aufgewachsen. Von dort ist es nicht weit zum fiktiven Bossdom. Er hat das Bäckerhandwerk gelernt und in Spremberg das Gymnasium besucht. Das ist Grodk auf Sorbisch. Der Laden der Mutter wurde 1999, fünf Jahre nach Strittmatters Tod, zur musealen Gedenkstätte ausgebaut. In den Regalfächern steht ein Persilkarton von einst. Ein paar haltbar gemachte Brote liegen daneben. Und auf
der Verkaufstheke steht die alte Waage mit den Entenschnäbeln.
Der unten abgedruckte Text handelt von Esau Matts schwierigem Verhältnis zu Frauen. Er liebt die Gemeindeschwester Christine. Unter einer Birke, auf einem von der Sonne aufgeheizten Stein wartet er auf sie. Aber aus dieser Liebe kann nichts werden. Nicht nur wegen Nona, der Mutter seines Kindes, die sich störend aus Thüringen meldet.
Gerd Schrammen