Antwortschreiben

Liebe Mitglieder und Freunde von Erwin Strittmatter,
Im nachfolgenden können Sie den vollständigen Brief unseres Vereinsvorsitzenden Dr. Schemel, bezugnehmend auf den Beitrag von Herrn Liersch über Erwin Strittmatter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, lesen.

Bohsdorf, den 16.06.2008__
Sehr geehrter Herr Liersch,
Ihr Beitrag über Erwin Strittmatter in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erregt hier die Gemüter. Wir sind uns sicher einig in den Worten von Anne Frank (geboren 1929 in Frankfurt / Main und umgekommen 1945 im KZ Bergen- Belsen): „Ich glaube nicht, dass allein die führenden Männer, die Regierenden und Kapitalisten am Krieg Schuld sind. Der kleine Mann anscheinend auch, sonst würden die Völker als solche nicht mitmachen“.Sie recherchierten in Dokumenten aus der DDR und stellten die Ergebnisse vierzehn Jahre nach dem Tode des Poeten vor. Er selbst hinterließ ein großes Werk über die kleinen Leute im vergangenen Jahrhundert. Eine slowakische Besucherin des LADENS im Lausitzer Bohsdorf („Bossdom“ bei Strittmatter) sagte mir: „Diese Leute gibt es bei uns auch. Sie heißen nur anders“. Strittmatter war mehr als ein Heimatdichter, schrieb sich als Poet in die Weltliteratur hinein. „Neunzig Prozent Wahrheit und zehn Prozent Erlogenes“, sagt er. Verschwiegen hat er nicht. Das war ehrlich und anständig. Mit seinen literarischen Texten mischte er sich ein. Er kokettierte zunächst mit den Mächtigen in der DDR und geriet immer heftiger in Distanz zu ihnen. Mit ihrer offiziellen Kritik wurde er zugleich von seinen Lesern geliebt und dann mehrfach drei bis vier Jahre später ausgezeichnet.
Gewann er die Zuneigung der Leser, obwohl er den Krieg, wie Sie Herr Liersch meinen, idyllisierte, ihn gar aussparte oder sogar, weil er es tat? Das ist die Frage.
Uns beiden, Sie aus Jahrgang 1932 und mir aus 1940, sagt Strittmatter an seinem Lebensabend: „Es kann sein, dass man vielleicht in drei, vier, fünf Jahren kommt und mich beschuldigt: Du bist dabei gewesen, als die Kriege in Afrika ausgebrochen sind und warum hast du es nicht verhindert.“            

Herr Liersch, Mut heißt Angst zu haben. Wie schuldig sind wir also beide an den Kriegen unserer Zeit? Was tun wir gegen sie? Ist Arroganz der Nachgeborenen nicht auch eine schlimme Folge des Krieges? Für Erwin Strittmatter war des Kriegsgeschehen Fakt. Er wurde eingezogen und bei der Ordnungspolizei von Verbrechern umgeben. Er konnte Verbrechen nicht vermeiden, erlebte sie in ganz Europa. „Institutionell“ war er der Himmlerschen SS zugeordnet, leistet Dienste am Schreibtisch, ist kein „Schreibtisch – Täter“. Das haben Sie gefunden in den DDR- Akten. Er konnte vermeiden auf Menschen zu schießen, die ganze Zeit. Das ist viel.

„Unheldische Taten, an denen ich beteiligt bin“ trieben ihn dennoch um und er hat sich „fünf Monate vor Kriegsende aus dem Soldaten- Stand entlassen“. „Unheldisch“, wieder so ein Wort: Er hatte die weiße Fahne vor den anrückenden Amerikanern gehisst, bei Rückkehr der Wehrmacht eingezogen und danach wieder gehisst. „Bin abgehauen“- nicht einmal Deserteur will er genannt sein, nachzulesen in „ Grüner Juni“ und aufgezeichnet in einem ZDF- Interview von 1993. Strittmatters Werke sind in fast 40 Sprachen übersetzt, zunächst „nicht ins Westdeutsche“. Das änderte sich mit der 1996 verfilmten Roman- Triologie „Der Laden“. Im Bohsdorfer LADEN, zu dem jährlich weit über 6000 Besucher kommen, erleben wir, dass Strittmatters Werke ungebrochen gelesen werden, nicht nur von Älteren, sondern bundesweit und im Ausland.

Als über 80- jähriger legt Erwin Strittmatter noch den letzten Teil der Triologie „Der Laden“ vor. Vielleicht hätte der POET noch das „Loch: KRIEGSZEIT“ aufgemacht, was Sie, Herr Liersch als zu wenig beleuchtet empfinden. Wer weiß?

Leben und Werk sind bei Strittmatter auf besondere Weise verwoben. Er lebt in seinen Helden. Mit 13 Jahren veröffentlicht er die erste Erzählung. SCHRIFTSTELLER wollte er schon im Gymnasium werden, als Bäckergeselle hat er sich dafür entschieden. In der Kriegszeit trägt er sich mit der Sehnsucht danach und mit Fragmenten zum Friedensbuch „Ochsenkutscher“. Wieder in Bohsdorf findet er in der Backstube sein „Tichterbüro“ in der Nachkriegszeit. „Ich habe hier meine Wurzeln und ich bin Schriftsteller, der Wurzeln braucht, der nicht heute da und morgen da leben kann“. Der „Ochsenkutscher“ entstand und handelt in Bohsdorf.

Hat der POET Erwin Strittmatter nun die Erinnerungen an seine Kriegszeit „weggedrückt“ und zog er es auch nach 1989 vor zu schweigen? Bleibt er weit unter seinen Möglichkeiten? Kam er seiner Verantwortung nach, als er „aus dem Schlamassel“ raus ist? Das stellen Sie in den Raum, Herr Liersch. Ich meine: Er stellte sich der Verantwortung. Und ich will die Seiten dafür im Gesamtwerk nicht summieren. Das ginge schief. Im „WUNDERTÄTER I“ allerdings wird der Krieg in seinem UN- SINN mit dem Mittel des Schelmenromans beschrieben SCHELM STANISLAUS BÜDNER, alias Erwin Strittmatter soll sich bei der Musterung „Scheißkerl“ nennen, er, der später keinen Schuss auf Menschen in diesem scheußlichen Krieg abgab.

Sein aufgewühltes, zerrissenes Innere kann er nur in mehreren Schicksalen öffnen, denen des Kraftczek, Bogdan, Wonnig, Marschner, Weißblatt, Johannson und Rolling. Das Leben dieser „kleinen Männer“ ist durch den Krieg jämmerlich verformt. Ihre inneren Konflikte im Krieg sind nicht die von Helden. Sie vermeiden „Krieg“ und sie desertieren. So treibt es sie in ganz Europa um, in Polen, Frankreich, Karelien, Jugoslawien, Griechenland. Überall fürchterliche Gräuel. Nur eine Heldin gibt es, Helene, die Selbstmordattentäterin in Paris. So sehe ich Erwin Strittmatter – ein tragischer Schelm im Krieg.
                                              
Und er lässt „Stanislaus Büdner“ in einem DIALOG aufschreien:
                                  „Ich habe den Büdner umgebracht.“ –
                                  „Ich bitte Sie, wir sind Soldaten.“ –
                                  „Mörder!“ schreit Stanislaus. „Ich schweige nicht mehr.“

Das alles bringt Strittmatter schreibend ins Nachkriegs-Gedächtnis mit ein. Er schreibt sich in eine neue Gesellschaft hinein, mit dem „Lope“ im „Ochsenkutscher“, dem „Heimkehrer“ in „Tinko“, dem „Ole Bienkopp“, diesem meistgelesenen Buch in der DDR, seiner „Hoffnung DDR“. Das Schweigen der Männer aus dem Krieg ist millionenfach. Er, der Schriftsteller, im Krieg „unheldisch“, schreibt sich freier und freier. „Dauernde Scham lähmt“ meint er. Er wird SCHELM bleiben, auch im Umgang mit den nun Mächtigen. Bei schärfsten offiziellen  Attacken auf neue Veröffentlichungen, einhergehend mit gleichzeitigem Einverständnis der Millionenschar seiner Leserinnen und Leser, bleibt er empfindsam für die Schicksale der kleinen Leute, deren Nöte auch im Krieg. Sollte es denen allen, uns allen nicht aufgefallen sein, was Sie, Herr Liersch Jahre, nach dem gescheiterten  „Versuch DDR“ in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ äußern. Mit seinen Lesern sucht Strittmatter, Schuld durch aufopferungsvolle Arbeit zu überwinden, Sühne zu finden. Ich nenne es MUT, wie er mit Ehrlichkeit und Anstand die Wahrheit finden will, SÜHNE, wie er immer offener den nun Mächtigen den Fehde-Handschuh hinwirft. Lesen Sie das nach im Werk des SCHELMS, etwa seinen Tagebüchern.  „Die Lage in den Lüften“ illustriert die Geschehnisse um den „WUNDERTÄTER III“. Erst hier hat man den Schelm enttarnt, kann man es lesen, wenn man will. Der Schelm wird Held, „Held der Arbeit“, die Auszeichnung die er gerne annimmt. Was für ein Gleichnis.Herr Liersch, ich lade Sie zu einem Gespräch in das Spremberger „Erwin-Strittmatter-Gymnasium“ oder „Unter Eechen“ in Bohsdorf ein. Viele Strittmatter-Kenner waren schon unsere Gäste. Der letzte war der Pfarrer Gloege aus Bonn, der sein bemerkenswertes Buch „Der unbekannte Strittmatter“ vorstellte. Im friedlichen Sinne begrüße ich Sie schon heute.

Dr. Manfred Schemel
Vorsitzender des Erwin-Strittmatter-Vereins
Bohsdorf / Spremberg