Stellungnahme

Verehrte Mitglieder und Freunde,
im nachfolgenden Beitrag können Sie die Stellungnahme des Aufbau Verlages GmbH & Co. KG zur Diskussion um die Militärvergangenheit von Erwin Strittmatter lesen.

Stellungnahme zur Diskussion um die Militärvergangenheit von Erwin Strittmatter
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 8. Juni 2008 erschien von Werner Liersch der Artikel „Erwin Strittmatters unbekannter Krieg“. In den darauf folgenden Wochen gab es dazu eine erregte Debatte in den Medien. Strittmatter wurde das Verschweigen seiner Zugehörigkeit zu einem SS-Regiment vorgeworfen und die Fälschung seines Lebenslaufes durch falsche Angaben. Die Glaubwürdigkeit seines Werkes wurde in Frage gestellt und sein Fall als Parallele zu Günter Grass’ späten Eingeständnissen erörtert („Endlich einer aus dem Osten“, FAZ). Es war eine moralisch intendierte Diskussion, in der an keiner Stelle nach dem historischen Wahrheitsgehalt der Behauptungen gefragt wurde.
Ohne Beweise, lediglich auf Hypothesen gestützt, legte Liersch in der FAS vom 03. 08. 2008, unterstützt von Karl Corino (Frankfurter Rundschau, 04. 08. 2008),  noch einmal nach, indem er Zweifel an den Angaben von Strittmatter zu seiner Desertion äußerte.
Sowohl Eva Strittmatter als auch der Verlag hielten sich bisher mit Stellungnahmen zurück, da sie zunächst gesicherte Erkenntnisse über Strittmatters Militärvergangenheit gewinnen wollten. Das gestaltete sich äußerst langwierig und schwierig, da wegen des fehlenden Soldbuches und der vernichteten Kriegstagebücher des Bataillons die einzelnen Stationen von Strittmatters Militärlaufbahn nicht definitiv nachvollziehbar sind und wenig verlässliche Quellen aufzufinden waren.Eva Strittmatter beauftragte den Historiker Bernd-Rainer Barth für Recherchen im Bundesarchiv und in den Stasi-Unterlagen (BStU). Gestützt auf diese Forschungen – ein detaillierter Bericht von B.-R. Barth liegt vor – kann folgende zusammenfassende Stellungnahme zu den Vorwürfen gegen Strittmatter gegeben werden:

I. Angaben von Erwin Strittmatter zu seiner Militärzeit
In der SED-Kaderakte Erwin Strittmatter befinden sich Lebensläufe und Fragebögen ab 1947. Daraus geht hervor, dass er 1941 zum Polizei-Reserve-Bataillon 325, Halle, eingezogen wurde. Nach der Ausbildung in Eilenburg war er bis September 1944 Schreiber im Bataillons-Stab. Einsätze des Bataillons erfolgten in Jugoslawien, Österreich, Finnland, Griechenland. Strittmatter gab an, nicht an Gefechten teilgenommen zu haben. Sein höchster Dienstgrad war Oberwachtmeister. In Griechenland wurde ihm von griechischen Kommunisten Hilfe zur Desertion angeboten, was er aber ablehnte. Ab September 1944 wurde er zur Film- und Bildstelle in Berlin-Spandau abkommandiert. Nachdem die Dienststelle wegen der Bombenangriffe nach Oberfranken verlegt wurde, kam er mit Hilfe eines Oberleutnants zu Reisepapieren und gelangte mit zwei weiteren Kameraden nach Böhmen, wo er sich bei einem Bauern versteckte. (Den Bauern gab Strittmatter mit Namen und Adresse als Zeugen an. Ein Freund des an der Desertion beteiligten und inzwischen verstorbenen Kameraden Hein Bethmann bestätigte Eva Strittmatter gegenüber den Vorgang, den er von Bethmann in dieser Form gehört hatte.) Nach Ende des Krieges wurde Strittmatter von tschechischen und amerikanischen Beamten verhört und nach Thüringen entlassen.
Im Mai 1959, als Strittmatters Berufung zum 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes anstand und er aufgefordert wurde, speziell zu seiner Militärvergangenheit Auskunft zu geben, verfasste er eine Nachtrag zum Fragebogen („Erläuterungen zu meinem Militärverhältnis“). Dort heißt es: „ Meine Zugehörigkeit zu einem Nazi-Pol[izei]-Bat[aillon] wird (besonders auf diesem exponierten Posten) immer eine willkommene Angriffsfläche bieten. Wahrscheinlich werde ich allein viel Kraft dazu verbrauchen müssen, solchen möglichen und durchaus berechtigten Anwürfen klärend und erklärend gegenüber zu treten; ganz abgesehen von den eigenen Hemmungen.“

II. Militärhistorischer Hintergrund
Das Polizei-Regiment 325, zu dem Strittmatter im Frühjahr 1941 eingezogen worden war, wurde mit zwei weiteren Polizei-Regimentern im April 1942 zum „Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18“ zusammengelegt. Am 24. 2. 1943 erließ Himmler den Befehl, dass alle deutschen Polizeiregimenter die Bezeichnung SS-Polizeiregiment zu führen hätten. Strittmatters Regiment hieß demzufolge „SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18“. Der Militärexperte Ralph Klein, der speziell zu diesem Regiment geforscht hat, stellt fest: „Es wurde jedoch nicht Teil der SS, sondern blieb Teil der Ordnungspolizei“ (vgl. Ralph Klein, Das Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18, ZfG, 1/2007, S. 52).
Strittmatter gebrauchte in seinen Angaben für seine Dienststelle die Bezeichnung „Bataillon 325“, wie es in der militärischen Praxis üblich war (vgl. die Chronik des Regiments von seinem ersten Kommandanten, Hermann Franz: „Gebirgsjäger der Polizei“, Bad Nauheim 1963, sowie Ralph Klein, a. a. O.).

III. Vorwürfe von Werner Liersch
Werner Liersch zeichnet ein relativ genaues Bild jener Verbrechenslandschaft, in der auch das Polizei-Bataillon 325 bzw. das SS-Gebirgsjäger-Regiment 18 agierte. Dabei stützt er sich zwar auf Forschungsergebnisse ausgewiesener Experten, aber auch deren Erkenntnisse sind, bedingt durch die fragmentarische Überlieferung der Primärquellen (Kriegstagebücher, Einsatzbefehle etc.), lückenhaft und unvollständig. Mit Andeutungen, Vermutungen und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten lässt Liersch seine Thesen assoziativ als Tatsachen erscheinen. So unterstellt er Strittmatter „eine kleine, aber wichtige Manipulation“, indem er angab, zur Schutzpolizei – und nicht zur Ordnungspolizei – einberufen worden zu sein. Dieser Vorwurf trifft nicht zu, da die Betroffenen zu den einzelnen Polizeieinheiten eingezogen wurden und dann ggf. als Schutzpolizisten Teil der Ordnungspolizei waren. Zum Reizwort „SS“ schreibt er: „Die oberen Dienstgrade der ‚OrPo’ erklommen SS-Ränge. Den Rekruten des Bataillons 325 der Ordnungspolizei, Strittmatter, erfasste am 15. April 1941 ein SS-Untersturmführer auf zwei Karteikarten nach ‚rassischen’ Gesichtspunkten wie ‚Hautfarbe, Schädelform, Mongolenfalte, Nasenform, Schlitzaugen, vorspringende Backenknochen’. Auf das Bataillon 325 wartete Anfang 1942 eine besondere Aufgabe.“ Nicht nur die Datumsangabe ist falsch, auch der in diesem Zitat suggerierte rassenpolitische Kontext und schließlich die gesamte Interpretation des zitierten Dokuments gehen an der Realität vorbei. Was Liersch als Erfassung nach „rassischen“ Gesichtspunkten deutet, entspricht  einer Erfassung körperlicher und gesundheitlicher Merkmale in der NS–Terminologie, die ein SS-Untersturmführer am 15. April 1940 (das Datum ist deutlich sichtbar auf der Karteikarte) – also ein Jahr vor Strittmatters Einberufung – bei dessen militärischer Musterung in Saalfeld auf zwei Karteikarten im Format A5 vermerkt. Für die historisch nicht bewanderten Leser suggeriert die Abfolge von angeblichen „Rassegesichtspunkten“, dem SS-Untersturmführer (einem der niedrigsten SS-Dienstgrade) und der Verknüpfung von „besonderen Aufgaben“ mit daran anschließender Schilderung realer Verbrechen den Schluss: „Auch Erwin Strittmatter war Mitglied der SS“ (Tagesspiegel, 10. 06. 2008, u. a.).

IV. Umgang der SED mit Strittmatters Militärvergangenheit
Strittmatters Angaben in dem knapp 60 Seiten umfassenden Dossier der Kaderabteilung des ZK der SED beginnen 1947 (nicht, wie Liersch behauptet, 1959). Der SED standen umfangreiche Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung, ganz abgesehen von der geforderten „Wachsamkeit“ anderer Genossen. Dies wussten in der Regel auch die betreffenden Kader. Eine im Juni 1974 tatsächlich erfolgte Denunziation Strittmatters und zwei weiterer Autoren durch Michael Tschesno-Hell ist in der Kaderakte registriert, überprüft und ohne ersichtliche Folgen geblieben.
Lierschs Unterstellung, Strittmatter hätte der Partei gegenüber den wahren Namen seines Regiments verschwiegen, ist insofern gegenstandslos, da sich Strittmatter an die in der Truppe gängigen Bezeichnungen hielt, die sofort nachprüfbar gewesen wären, wenn der Verdacht der Vertuschung aufgetreten wäre.
Die DDR hatte lange versucht, sich der historischen Schuldfrage zu entziehen. Anfang der sechziger Jahre musste sie sich im Zuge der verschärften vergangenheitspolitischen Konfrontation zwischen Ost und West dazu entschließen, die strafrechtlichen Hinterlassenschaften der gemeinsamen NS-Vergangenheit zumindest punktuell aufzuarbeiten. Dafür wurden in den Jahren 1964 bis 1968 die strukturellen und personellen Voraussetzungen geschaffen.1964 entstand beim MfS eine eigene Stelle zur „politisch-operativen“ Aufarbeitung der NS-Akten. Ab 1965/66 wurde eine spezielle Unterabteilung der Hauptabteilung IX gebildet, die ausschließlich für die Aufklärung von NS- und Kriegsverbrechen zuständig war. Ab 1965 baute das MfS eine eigene zentrale Materialsammel- und Aufbereitungsstelle auf, die Hauptabteilung IX/11. Sie erhielt den Auftrag zur systematischen Erfassung, Archivierung und politisch-operativen Auswertung der Materialien aus der Zeit bis 1945.
Indizien nach gab es hier auch eine Akte zu Strittmatter, die heute nicht mehr auffindbar ist. Es kann vermutet werden, dass sie zu den Materialien gehörte, deren Vernichtung aus Kapazitätsgründen am 28. 2. 1983 verfügt wurde. Daher kann nicht mehr ermittelt werden, welche Stellung MfS und Parteiführung zu Strittmatters Angaben bezogen.
Die Angaben zu seiner Militärzeit in den MfS-Akten selbst entsprechen wortwörtlich denen in den SED-Kaderunterlagen. Befragungen der Zeugen, die Strittmatter zur Überprüfung seiner Angaben nannte, wurden nicht veranlasst, zumindest existieren keine Aktenvermerke dazu.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Partei bzw. das MfS, wie Liersch u. a. vermuten, ihr Wissen zur Erpressung Strittmatters benutzt oder dieses vorgehabt hätten. Man kann allerdings davon ausgehen, dass Strittmatters Angaben überprüft worden sind. Wenn er dennoch in solche renommierten Funktionen wie die eines 1. Sekretärs des DSV und später dessen Vize-Präsidenten eingesetzt wurde, bedeutet dies, dass die SED-Instanzen seine persönliche Zugehörigkeit zu einem Gebirgsjägerregiment nicht mit Kriegsverbrechen in Verbindung brachten. Die Möglichkeit der Enttarnung eines so bekannten Schriftstellers und Verbandsfunktionärs als eines, wie auch immer, in NS-Verbrechen verstrickten Polizeiwachtmeisters war ein Risiko, das die SED-Führung nicht leichtfertig einging. Eine erneute, umfassendere Überprüfung der Partei-Mitglieder erfolgte Mitte der sechziger Jahre. Anlass waren Fragebogenfälschungen, bei denen Mitgliedschaften in der NSDAP oder Waffen-SS verschwiegen worden waren. Die Untersuchungen hatten bei Strittmatter ebenfalls ein negatives Ergebnis.

V. Strittmatters Reflexion seiner Vergangenheit
Strittmatter hatte seine Bereitschaft bekannt, „klärend und erklärend“ Stellung zu nehmen. Obwohl es dazu nicht kam, war seine Vergangenheit nicht unbekannt; es gab entsprechende Gerüchte, auch im Schriftstellerverband und in der Akademie der Künste. Diese Situation war eine Folge der allgemeinen Defensiv-Praxis der SED, mögliche Angriffsflächen für den politischen Gegner durch Verschweigen und Nicht-Reaktion minimieren zu wollen. Strittmatters öffentliche Haltung zu seiner Vergangenheit war – zumindest in den fünfziger/sechziger Jahren – keine Frage persönlicher Entscheidungsfreiheit, sondern Teil der auch von ihm verinnerlichten Parteidisziplin.
Strittmatter ist Epiker, und als solcher hat er seine Erlebnisse und Erfahrungen während des Krieges in der ihm adäquaten Form – literarisch – verarbeitet. Obwohl Liersch die literarische Reflexion der Erlebnisse nicht gelten lässt, zitiert er aber – ebenfalls Literatur – Beschreibungen der Örtlichkeiten Griechenlands im „Wundertäter“ als Beispiel für Strittmatters angebliche Idyllisierung und Verharmlosung der Ereignisse. So verfährt er auch mit der Erzählung „Grüner Juni“, in der Strittmatter vom Kriegsende schreibt und seine Vergangenheit als Gebirgsjäger benennt.
In besonders eindrücklicher Weise verarbeitete Strittmatter seine Erfahrungen im „Wundertäter“. Seine Position ist dabei eindeutig. Nach einer in allen Einzelheiten geschilderten Razzia sagt zum Beispiel Büdner, die Hauptfigur: „Wir haben keine Zukunft. …Mörder haben keine Zukunft.“ Auf den Einspruch des Feldwebels Zauderer erwidert er: „Sie haben mindestens einen Menschen umgebracht. … Sie haben den Menschen Zauderer getötet.“ Und über sich selbst: „Ich habe den Büdner umgebracht!“ Auf den Einwand, „… wir sind Soldaten, Büdner“, schreit er: „Mörder!“